Gesellschaftspolitische Matinee

Der Anwaltsverband Baden-Württemberg veranstaltet im Frühjahr eines Jahres eine "Gesellschaftspolitische Matinee" zu der er die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen zur gemeinsamen Diskussion einlädt. Ziel ist, die Sichtweisen der anderen Interessenvertreter kennenzulernen und auch die anwaltliche Betrachtungsweise einzubringen. Der Anwaltsverband widmet sich so jährlich einem aktuellen Thema, dass er für die rechtspolitische Debatte in der Gesellschaft für relevant hält. Es soll z. B. besprochen werden, ob gesetzliche Regelungen noch zeitgemäß sind und wohin zukünftige Entwicklungen gehen könnten. Dazu lädt er regelmäßig Experten unterschiedlicher Fachrichtungen ein, an die die Zuhörer auch Fragen stellen und mit ihnen in den Erfahrungsaustausch eintreten können.

 

Gesellschaftspolitische Matinee 2024 - 10jähriges Jubiläum

Am 8. Mai 2024 fand die 10. "Gesellschaftspolitische Matinee" des Anwaltsverbandes BW in Stuttgart statt. Sie widmete sich dem Thema „KI in der Justiz und bei Anwälten – wie wird sich die Tätigkeit – auch für berichtende Journalisten – verändern?“ Der Einladung folgten rund 40 Gäste aus justiznahen Berufen, wie Richter, Staatsanwälte, Dolmetscher, Rechtspfleger, Anwälte und Syndikusrechtsanwälte, aber auch der rechtspolitischen Szene. Denn Eines war klar, was es für den Rechtsstaat bedeuten kann, wenn auf Seiten der Gerichte sowie in den Anwaltskanzleien vermehrt Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt, interessiert alle.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Staatsanwältin Melodie Parva aus Berlin, Bundessiegerin bei "Jugend debattiert" 2012. Mit ihr diskutierten auf dem Podium

- Dr. André Meyer-Vitali, Forschungsbereich Agenten und Simulierte Realität, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), Saarland

- Staatsanwalt Richard Hu, Referat für Information und Kommunikation des Ministeriums der Justiz und für Migration BW

- Rechtsanwalt Cornel Pottgiesser, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Vorsitzender des Anwaltvereins Esslingen

- Peter Welchering, Journalist für Deutschlandradio, ZDF und FAZ, Lehrbeauftragter an Journalistenschulen

Nach der Begrüßung durch den Vizepräsidenten des Anwaltsverbandes BW RA Detlev Heyder aus Freiburg wurden erst einmal die Grundlagen für den Einsatz von KI geklärt. Während RA Pottgiesser darauf abstellte, dass es ohne die Digitalisierung der erforderlichen Dokumente nicht gehe, erläuterte Dr. Meyer-Vitali, dass der Begriff KI aus dem Englischen komme und eher "Datensammlung" als "Intelligenz" bedeute. Während man von herkömmlicher Software vor allem erwarte, dass diese korrekt arbeite, sollen KI-Systeme selbst lernen. Das bedeute, dass der Determinismus verloren gehe und man sich fragen müsse, wie weit man flexibilisieren wolle.

StA Hu erklärte, dass man bei OLGA, ASTRA (aufbauend auf Codefy) oder JANO nun lieber von „justice tec“ anstelle von „legal tec“ oder „KI“ spreche. Das Justizministerium BW interessiere vor allem, ob es nützlich sei, nicht so, ob es als KI nach der europäischen KI-Verordnung zu qualifizieren sei.

Herr Welchering sagte, für Journalisten sei schwierig, wie die jeweiligen Grundlagen aussehen. Es komme auf den Kontext und Kontrollmöglichkeiten an. RA Pottgiesser schilderte, dass Anwälte ChatGPT, z. B. zum Erstellen von Mahnschreiben (ohne Eingabe personenbezogener Daten), nutzen oder auch für Werbeauftritte, wie der Homepage. Chat-Anwendungen, z. B. zum Steuern von Mandantenflüssen, funktionierten hingegen bisher unbefriedigend.

StA Hu betonte die verfassungsrechtliche Unabhängigkeit der Richter sowie Datenschutzaspekte. Es dürften keine sensiblen Daten in die USA gelangen. Der BING-Copilot von Microsoft sei im juristischen Bereich zu fehlerhaft. Large Language Models (LLM) könnten nicht rechnen. Jura sei aber „Mathe mit Worten“.

Dr. Meyer-Vitali bestätigte den Eindruck. ChatGPT sei nützlich, aber unzuverlässig. Die Software sei nicht kreativ, sondern gebe stochastisch nur aus, was sie für am Wahrscheinlichsten halte. Auch habe sie keinen Zeitbegriff und gebe nicht an, was wahr sei. Oft gehe der Zusammenhang verloren. Deswegen forsche das DFKI daran, wie man Wissensmodelle mit lernenden Systemen zusammenbringen könne, um so eine „externe Welt“ zu schaffen. Man müsse zur Nachvollziehbarkeit fragen, warum ist Etwas passiert?

Herr Welchering sagte, es würden schon Transskriptions-Tools, etwa um ein Interview zu verschriftlichen, sowie Übersetzungs-Tools genutzt. Chatbots würden für die Recherche noch nicht eingesetzt. In der Diskussion sei die Sprachausgabe, die noch zu fehlerhaft sei.

StA Hu erläuterte, beim OLG Stuttgart seien ca. 12.000 sog. „Dieselklagen“ eingegangen. Jedes Verfahren habe ca. 1.000 Aktenseiten. Entscheidungserheblich seien aber vielleicht nur 10-20 Worte. Die Software OLGA (OLG-Assistent) solle nun die entscheidungserheblichen Fakten aus den Dokumenten ziehen und „Stapel gleichartiger Fälle“ bilden. Ob die Richter auf das Ergebnis vertrauen könnten, würde mit einer „Ampel“ angezeigt. Es sei ein gedachter menschlicher Assistent mit eingeschränkten Fähigkeiten. Die Nutzung stehe den Richtern frei.

Dr. Meyer-Vitali sagte, es gehe um das Verifizieren von Output. Vertrauen entstehe u. a. durch Fairness, Robustheit, Korrektheit, Zuverlässigkeit und Erklärbarkeit. Der Mensch müsse entscheiden.

Herr Welchering meinte dazu, dass der Mensch die Modelle dann aber auch verstehen müsse. RA Pottgiesser wandte ein, dass man nicht immer die Zeit habe, alles zu überprüfen. Man müsse deswegen ein wenig Vertrauen aufbringen. Dr. Meyer-Vitali erinnerte an das Entscheidungsfindungs-Modell von Carnegie und die Verantwortlichkeit des Menschen.

Aus dem Publikum kam die Frage, wie denn OLGA gewährleiste, dass Parteivortrag nicht übersehen werde. Dazu erklärte StA Hu, dass die Bedeutung der mündlichen Verhandlung gestärkt werden müsse.

Auf den Einwand, dass der Mensch, dann, wenn er etwas nicht verstehe, hoffe, dass es gut gehe, erwiderte Dr. Meyer-Vitali, selbst die Experten, die die KI programmiert hätten, wüssten nicht, was passiere. Deswegen müsse man explizites Wissen kombinieren. Herr Welchering verlangte, dass der Anwender sich über die Funktionsweise informieren müsse.

Dr. Meyer-Vitali erinnerte an den oft kritisierten „Turing-Test“ (Imitation Game) von 1950 und menschliches Wunschdenken.

StA Hu ergänzte, dass Large Language Models (LLM) mit „Weltwissen“ in der Justiz nicht zur Anwendung kommen sollen. OLGA könne nicht nur extrahieren, sondern auch zusammenfassen. JANO sei ein generatives Justiz-Anonymisierungs-Tool . Es soll personenbezogene Daten aus Gerichtsentscheidungen für die Weiterverwendung pseudonymisieren.

Dr. Meyer-Vitali wies darauf hin, dass es darauf ankomme, wer die KI mit welchen Daten füttere. Man könne nicht alle Bias (Voreingenommenheit, Verzerrung) entfernen. Man müsse sich einer Voreingenommenheit bewusst sein, weil sie auch Information enthält, solange man nicht fälschlicherweise Objektivität erwartet.

Auf Nachfrage erläuterte StA Hu, die am LG Hechingen eingesetzte Software ASTRA (von Codefy). Sie soll dem Richter Struktur geben, z. B. bei Schadensersatzansprüchen. Derzeit kümmern sich darum engagierte Richter und Justizpraktiker. Anwälte seien noch nicht beteiligt.

Aus dem Publikum kam der Hinweis, dass bei Identität von eingebender und auswertender Person eine unerwünschte Verengung der Sichtweise bei der Entscheidungsfindung eintreten könne, z. B. in vielseitigen Familienverfahren.

StA Hu meinte dazu, der Richter solle weiterhin sein Relationsblatt verwenden. Die Anwendungen würden sich nur für „gleichmäßige Fälle“ eignen.

Dr. Meyer-Vitali sagte, KI könne die KI noch nicht kontrollieren. Der kommende AI-Act sehe Zertifizierungen der Systeme vor.

StA Hu erklärte, die Anwendungen dienten vor allem dazu, Zeit bei der Aktenexegese einzusparen. Alle sei komplizierter geworden, z. B. ein Bauvorhaben. Der Mensch solle wieder an seine Kernaufgabe herangeführt werden.

Herr Welchering erwiderte dazu, dass dann, wenn man mit KI journalistische Arbeitskräfte einspare, aber mehr Informatiker brauche. Die Verlage würden hier jedoch derzeit sparen. So komme es zu Falschnachrichten.

Aus dem Publikum kam die Frage, wo die Grenze zum Kosten-Nutzen-Aufwand verlaufe, wenn z. B. beim Übersetzen ständig translatorische Entscheidungen getroffen werden und es auf den Kontext ankomme. Wenn KI bequem sei, stelle sich die Frage nach dem Aufwand, z. B. für Stromenergie und Kühlung der Rechenzentren.

StA Hu antwortete darauf, dass man derzeit noch nicht das ausreichende Vertrauen in die Richtigkeit der Software-Ergebnisse habe. Derzeit seien menschliche Dolmetscher im Gesetz noch vorgesehen.

Dr. Meyer-Vitali sagte, der Mensch werde nicht überflüssig. Die Tools seien nur Werkzeuge und würden Nichts von allein machen. Es sei aber gut, mehrere Quellen zu benutzen. Der Energieverbrauch sei in der Tat ein Problem.

Herr Welchering ergänzte, man arbeite schon an Einsparmöglichkeiten, etwa der Kühlung mit Warmwasser.

Aus dem Publikum kam die Frage, ob es sowas wie einen „KI-Führerschein“ für Anwender brauche.

Die Experten StA Hu, Dr. Meyer-Vitali und Welchering waren sich einig: „nein“. Viel wichtiger sei gute Bildung, z. B. in Mathematik oder bei den Sozialkompetenzen. RA Pottgiesser setzte auf Zertifizierung sowie Kennzeichnung.

Nach dieser angeregten Debatte und den Dankesworten konnten die Teilnehmer sich beim gemeinsamen Imbiß weiter austauschen.

 

Gesellschaftspolitische Matinee 2023 - Bericht

Am 4. Mai 2023 konnte RAin Irene Meixner, Vorstandsmitglied des Anwaltsverbandes BW und Vorsitzende des Anwaltvereins Schwäbisch Gmünd, bei schönstem Frühlingswetter die rund 50 Teilnehmer der „Gesellschaftspolitischen Matinee“ in Stuttgart begrüßen. Sie verwies einleitend auf das jüngst angekündigte Geständnis des Ex-Audi-Chefs Stadler und fragte, wie ein entsprechender Deal wohl auf die normale Bevölkerung wirken würde.
Unter den Gästen befanden sich u. a. Gerichtspräsidenten mehrerer Gerichtszweige, Kammerpräsidenten, Vorsitzende der örtlichen Anwaltsvereine, Gerichtsvollzieher, Übersetzer, Vertreter/innen der Berufsgenossenschaft, der Landeszentrale für politische Bildung oder von Gewerkschaften.
Die Podiumsdiskussion wurde vom SWR-TV-Moderator Sven Rex eröffnet. Der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte BW, Herr VRiOLG Wulf Schindler, berichtete von seinem Alltagsfrust, z. B. bei der Funktionsweise der IT oder erbosten Briefen von Bürgern, die mit dem Rechtssystem unzufrieden sind. Er zeigte Verständnis für die teils skandalisierende Berichterstattung über Gerichtsverfahren durch verschiedene Medien, wünschte sich aber eine seriösere Berichterstattung.
Der Chefredakteur der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), RA Tobias Freudenberg, ärgere sich im Alltag eher über versäumte Abgabefristen von Autorenskripten, berichtete aber auch von den Mühen, die Geschäftsstellen der Gerichte zu erreichen, etwa, um zu erfahren, ob ein Urteil nun rechtskräftig geworden sei.
Herr Michael Sommer vom Institut für Demoskopie Allensbach, der als Projektleiter des jährlich erscheinenden ROLAND Rechtsreports fungiert, stellte heraus, dass die Bevölkerung vor allem dann unzufrieden sei, wenn man ihre Freiheitsrechte stark beschränke. Aktuell verstünden die Bürger die von der Regierung forcierte Energiewende-Politik, etwa zum Heizungstausch, nicht. Dies führe nicht aus Sympathie, aber aus Frust, zu potentiellen Wählerzuwächsen bei der AfD. Derzeit liegen entsprechende Meinungsumfragen bei 17% für diese Partei, vor allem in den neuen Bundesländern. Dies sei auf Zukunftssorgen zurückzuführen, z. B. auch angesichts der derzeitigen hohen Inflation. Das Grundgesetz oder Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts würden in Deutschland auf eine hohe Akzeptanz stoßen, deutlich mehr als in anderen westlichen Staaten.

Herr Rex kam auf die aktuell veröffentlichte Studie des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) 2023 zu sprechen, die einen deutlichen Rückgang von zivilgerichtlichen Klagen in den letzten Jahren konstatierte. Herr Freudenberg führte dies vor allem wegen Kostenrisiken und Verfahrensdauern auf die drohende Unwirtschaftlichkeit zurück.

Der Generalstaatsanwalt Achim Brauneisen verwies auf Bewertungen des Europarats. Danach hätte Deutschland das zweitbeste Rechtssystem nach Norwegen. Gut seien Spezialisierungen, etwa eigene Kammern für Versicherungsrecht oder Fiskalfragen. Die langen Verfahrensdauern seien vor allem auf Personalmangel zurück zu führen.

Herr Schindler sprach den Aspekt der Vorhersehbarkeit eines Prozessergebnisses an. Ein Richter müsse die Entscheidungsgrundlage aufgrund streitigen Prozessvortrags ermitteln. Bei der heftigen Gesetzgebungstätigkeit in den letzten 20-30 Jahren sei es schwer, den Überblick zu behalten. Hinzu kämen viele offene Wertungsbegriffe, die vom Gericht ausgefüllt werden müssten. Auch seien die Lebenssachverhalte komplexer geworden. Immer mehr Parteien hätten sich auch vorab schon gut im Internet informiert.

Herr Freudenberg forderte, den Prozessparteien derartige Umstände besser zu erklären, z. B. wenn jetzt schon für 2024 terminiert werde. Seiner Meinung nach sei das Vertrauen ins Rechtssystem hoch, nehme aber ab.

Dem widersprach Herr Sommer. Bei einzelnen Aspekten, wie dem, dass reichere Leute sich mehr Anwälte leisten könnten, sei der Vertrauensverlust nachzuvollziehen. Bei der angesprochenen BMJ-Studie von April 2023 vermisse er Erklärungen für die Ursachen. Die angesprochenen Phänomene seien eigentlich schon seit Jahren bekannt.

Herr Brauneisen vermutete, dass sich die Streitkultur ändere. Für den Betroffenen sei wichtig, wer seinen Fall entscheide. Die Bürger seien auch selbstbewusster geworden. Die Gewaltenteilung funktioniere, wie die Entscheidungen aufgrund der Corona-Pandemie seit Frühjahr 2020 gezeigt hätten.

Herr Schindler bestätigte, dass insbesondere die Verwaltungsgerichte schnell und effizient gearbeitet hätten. Dem schloss sich Herr Freudenberg an. Man sei nach einigen Startschwierigkeiten recht schnell fähig gewesen, Videoverhandlungen durchzuführen.

Herr Sommer erläuterte, dass es der Bevölkerung wichtig gewesen sei, dass die politischen Entscheidungen von Gerichten überprüft werden. Problematisch sei die Berichterstattung der Medien gewesen, weil sich schwer ausmachen ließ, wo es Mehrheiten und wo Minderheiten gebe, z. B. im Hinblick auf die Querdenker. Schwierig sei auch die Uneinheitlichkeit von Regelungen der Länder und Kommunen gewesen.

Herr Brauneisen warf ein, dass jede Redaktion so ihre Tendenzen habe, wie man aktuell an der Berichterstattung über den Prozeß gegen den Inspekteur der Polizei von BW Herrn Renner sehe. Zum „Stadler-Deal“ müsse man wissen, dass so etwas in der StPO vorgesehen sei und das Verfahren beim Landgericht München bereits 2,5 Jahre dauere. Herr Stadler habe bereits 4,5 Monate in Untersuchungshaft gesessen und man könne ihm wohl nur einen Betrug durch Unterlassen vorwerfen. Hier sei ein Strafmaß von 1 Jahr und 10 Monaten bis 2 Jahre auf Bewährung zu erwarten. Die Justiz müsse solche Mechanismen erklären.

Herr Schindler gab zu Bedenken, dass Richter eigentlich nicht dazu da seien, etwas medial aufzuarbeiten. Manche Prozeßparteien wollten dies auch nicht. Es sei deswegen gut, dass zwischen erkennendem Richter und Gerichtssprecher getrennt werde. „Absprachen“ müssten öffentlich bekannt gemacht werden.

Herr Freudenberg ergänzte, dass viele Zeitungen unter enormen Kostendruck stünden. Viele Lokalredaktionen verfügten über keine juristische Expertise mehr.

Herr Rex kam auf den aktuellen Fall der von 12-jährigen Mädchen getöteten Luise zu sprechen. Überall werde nun über eine Absenkung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre gesprochen.

Herr Brauneisen führte aus, dass er hier das Jugendamt in der Verantwortung sehe. Dies hätte z. B. auch die Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung. In den USA gebe es einzelne Bundesstaaten, in denen die Strafmündigkeit schon bei 6 bis 7 Jahren läge. Er wolle keine Spirale nach unten, etwa wenn ein mehr als 11-jähriger zum Täter würde. In Deutschland gehe man vom „Schuldstrafrecht“ aus. 14-Jährige seien seines Erachtens noch nicht so weit entwickelt. Bisher gebe es nur sehr wenige Fälle.

Herr Schindler stimmte dem weitgehend zu und sprach sie für die Möglichkeit genauer Abwägung aus.

Herr Freudenberg sprach das allgemeine Gerechtigkeitsempfingen an. Dies könne sich durch gesellschaftliche Entwicklungen verändern. Im Fall Luise habe die Justiz gut kommuniziert, sich insbesondere nicht auf politische Diskussionen eingelassen.

Herr Sommer stellte dar, dass die Bevölkerung sich überwiegend für eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre ausspreche. Die „innere Sicherheit“ sei immer ein Sorgenthema. Der Bürger wolle, dass der Staat sich schützend vor ihn stelle.

Rechtsanwalt Doumanidis berichtete in der anschließenden Diskussionsrunde von seinen Erfahrungen beim Erklären von Prozessabläufen für Mandanten. Er beobachte, wie Egozentrik zugenommen habe.

Herr Freudenberg bestätigte die wichtige Filter- und Erklärfunktion von Rechtsanwälten. Auch dies sei ein Ergebnis der aktuellen BMJ-Studie.

Frau Barth von der Landeszentrale für politische Bildung BW sehe, dass die Leute sich zunehmend über alles Mögliche empörten. Die Politik sei bürgernaher als früher geworden. Die Menschen wollen nun mehr mitreden. Sie sehe die Auseinandersetzungen eher positiv, weil sie zeigten „wir sind wach“. Im Fall des Querdenker-Anführers Herrn Ballweg habe sie sich auch gefragt, ob 9 Monate Untersuchungshaft noch vertretbar seien.

Herr Brauneisen teilte die Einschätzung, dass der Rechtsstaat doch eigentlich gut funktioniere. Man habe nun Probleme mit der zunehmenden Digitalisierung, die zu zeitweisen Arbeitsausfällen führe.

Verdi-Landesbezirksleiter Gross bestätigte das Erklärbedürfnis, etwa hinsichtlich tariflicher Ausschlussfristen. Angesichts des Fachkräftemangels würden Arbeitgeber Mitarbeiter bei Fehlverhalten derzeit nicht so hart sanktionieren, wie noch vor ein paar Jahren.

Rechtsanwalt Borchardt meinte, durch die Einführung der außergerichtlichen Einigungsgebühr bei der Umstellung von der BRAGO auf das RVG sei der Anreiz für Anwälte größer geworden, weniger Fälle zu Gericht zu tragen, etwa bei Nachbarschaftsstreitigkeiten.

Der parlamentarische Berater der CDU-Landtagsfraktion Herr Dr. Das erläuterte, dass nur 3-5% der Verfahren gegen Corona-Schutz-Maßnahmen erfolgreich gewesen seien. Kinder und Jugendliche hätten keine ausreichende Lobby gehabt. Die Gesellschaft wolle nun aber keine Neutralität mehr, etwa von Gerichten. Viele fühlten sich moralisch überlegen, wie die Klimaaktivisten.

Herr Freudenberg sprach den Zielkonflikt an. Die Justiz sei nun einmal an Recht und Gesetz gebunden.

Herr Brauneisen vertrat die Ansicht, die Justiz könne nicht neutral sein. Jeder Richter habe auch seine Prägung. So sei in Freiburg entschieden worden, dass Klimaaktivisten keinen Nötigungstatbestand erfüllten während in Heilbronn dazu entschieden wurde, dass es Haft für 4 Monate auf Bewährung gebe. Die Richter müssten werten dürfen.

Rechtsanwalt Röthemeyer sprach die derzeitigen physischen Barrieren beim Zugang zum Gerichtsgebäude an. Die wöchentlichen Sprechzeiten seien so kurz, dass kaum Einer sie schaffen könne, etwa um einen Antrag auf Beratungshilfe zu stellen.

Herr Schindler führte dies auf nur mit Teilzeitkräften besetzte Geschäftsstellen zurück. Zudem würde das Personal vermehrt im Home-Office arbeiten.

Nach dem Ende des vielseitigen Erfahrungsaustauschs konnte die Veranstaltungsteilnehmer ihre Gespräche noch in geselliger Runde fortsetzen.

Einladungsflyer 2023

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